Bei einem Treffen in Schaffhausen unterhielten sich die beiden über verschiedenste Aspekte, von der Bildanalyse bis hin zur Patientenkommunikation. Nachfolgend ein Ausschnitt des entsprechenden Podcast, das in voller Länge frei zugänglich ist.
dental JOURNAL: Könnten Sie vielleicht genauer erläutern, was Sie unter künstlicher Intelligenz im Kontext der Zahnmedizin verstehen?
Dr. Thomas Müller: Es ist wichtig zu differenzieren. Die viel beschworene allgemeine künstliche Intelligenz, die dem Menschen in allen Belangen ebenbürtig wäre, sehen wir in der Zahnmedizin aktuell nicht und ist wohl auch noch Zukunftsmusik. Womit wir es heute zu tun haben, sind künstliche intelligente Systeme in Form von Software und Algorithmen, die spezifische Aufgaben übernehmen können, die traditionell menschliche Denkfähigkeit erfordern. Dazu gehören Denkarbeit, konzeptionelle Aufgaben und insbesondere Mustererkennung. In der Zahnmedizin haben wir hier bereits konkrete Anwendungen, wie beispielsweise Bilderkennungssoftware zur Detektion von Karies auf Röntgenbildern. Dies sind sogenannte Machine-Learning-Systeme, die durch menschliche Expertise trainiert wurden.
Eine weitere, aktuell stark diskutierte Stufe sind die Large Language Models (LLMs), wie ChatGPT oder Perplexity. Diese Modelle haben die Fähigkeit, Sprache zu erkennen und daraufhin Output zu generieren. Dieser Output kann vielfältig sein: Text, gesprochene Sprache, Bilder oder sogar Programmcode. Ich persönlich nutze beispielsweise Perplexity anstelle von Google für meine Recherchen, da es mir ermöglicht, gezieltere und oft besser aufbereitete Informationen zu erhalten. Es ist jedoch entscheidend zu verstehen, dass diese KI-Systeme keine Intelligenz im menschlichen Sinne besitzen, sondern auf statistischen Wahrscheinlichkeiten basieren. Sie können vorhersagen, welches Wort oder welcher Inhalt als nächstes wahrscheinlich ist, basierend auf den riesigen Datenmengen, mit denen sie trainiert wurden.

Das ist ein wichtiger Punkt. Könnten Sie näher auf diese statistische Natur der KI eingehen und welche Auswirkungen dies in der praktischen Anwendung haben kann?
Absolut. Da die KI auf Wahrscheinlichkeiten basiert, kann es zu sogenannten Halluzinationen kommen. Das bedeutet, dass das System plausible, aber fachlich inkorrekte Antworten generieren kann. Bei der Analyse von Röntgenbildern, die auf Mustererkennung basiert, ist dieses Risiko geringer, da es um den Vergleich mit Millionen von Bildern geht. Dennoch ist es unerlässlich, dass die klinische Interpretation immer durch den Zahnarzt erfolgt. Die KI kann Wahrscheinlichkeiten anzeigen, aber die letztendliche Diagnose und Behandlungsentscheidung trifft der Mensch. Es ist entscheidend, die KI-Ergebnisse immer im Kontext der klinischen Situation und der Anamnese des Patienten zu betrachten. Auch in der Tumordiagnostik beispielsweise wird ein detektierter Tumor nicht automatisch operiert, sondern der Behandler wägt ab, ob eine Operation oder zunächst eine Beobachtung sinnvoll ist. Die Gefahr, dass der Behandler durch KI ersetzt wird, besteht in der Röntgenanalytik oder Detektion aktuell nicht, da das letzte Wort immer der Behandler hat. Zudem fehlt diesen Systemen meist noch der Medizinprodukt-Charakter, der eine Diagnose delegation erlauben würde. Sie sind eher als Decision Support Systems zu verstehen.
Nun sind einige Jahre vergangen, seitdem KI in der Zahnmedizin Einzug gehalten hat. Wie hat sich der Einsatz von KI in den Praxen Ihrer Beobachtung nach entwickelt, wo hat es begonnen und wo sehen Sie die aktuellen Schwerpunkte und potenziellen Entwicklungen?
Der Einsatz von KI begann, wie bereits erwähnt, stark im Bereich der Röntgenbildanalyse. Hier sind die Fortschritte schon beachtlich. Ich könnte mir vorstellen, dass in Zukunft auch Intraoralbilder und Fotos von Schleimhautveränderungen in ähnlicher Weise analysiert werden könnten, was eine große Hilfe bei der Diagnose solcher Veränderungen wäre. Aktuell sehe ich das größte Potenzial der Large Language Models im Bereich der Praxisorganisation. Wir planen derzeit Schulungen für unser Team, um zu untersuchen, wie wir KI-Tools wie ChatGPT oder Perplexity in verschiedenen Bereichen des Praxisalltags nutzen können, beispielsweise in der Administration, am Telefon, bei der Optimierung des Bestellsystems oder bei Abläufen in der Hygiene. Im klinischen Bereich bestehen, wie gesagt, noch Herausforderungen im Hinblick auf Medizinprodukte-Zulassungen und das Risiko von Halluzinationen. Ein konkretes Beispiel für den Einsatz von KI ist im Bereich der Telefonie denkbar. Ich arbeite aktuell an einem Projekt zur Notfalltriage während des zahnärztlichen Notfalldienstes. Hier soll ein KI-Agent in der Lage sein, Anrufe entgegenzunehmen, erste Fragen zu beantworten und eine Vorselektion des Notfallgrades vorzunehmen. Perspektivisch könnte dies auch die Telefonie tagsüber in der Praxis entlasten, beispielsweise bei der Terminverschiebung oder der Organisation von Recall-Terminen. Stellen Sie sich vor, ein Agent ruft Patienten an, die überfällig für ihren Recall sind, und motiviert sie, einen Termin zu vereinbaren.
Das klingt nach erheblichen Effizienzgewinnen. Wenn es um die Nutzung von Patientendaten geht, stellt sich natürlich die Frage des Datenschutzes. Wie kann man hier sicherstellen, dass die datenschutzrechtlichen Bestimmungen eingehalten werden?
Grundsätzlich muss man für den Einsatz von KI nicht zwingend eine vollständig digitalisierte Praxis haben. Ein Internetanschluss und ein PC reichen oft schon aus. Für rein organisatorische Aufgaben ohne Patientendaten können LLMs wie Perplexity oder ChatGPT direkt genutzt werden, ohne in einen Datenschutzkonflikt zu geraten. Sobald jedoch Patientendaten involviert sind, beispielsweise für das Verfassen von Schreiben, die Beantwortung von E-Mails oder die Analyse von Berichten, sind Lösungen zur Pseudonymisierung unerlässlich. Bei der Pseudonymisierung werden datenschutzrelevante Inhalte erkannt, pseudonymisiert, verarbeitet und anschließend wieder de-pseudonymisiert. Es gibt verschiedene Anbieter solcher Technologien. Unser Institut hat eine speziell für die Zahnmedizin vortrainierte Technologie evaluiert und verfeinert, die diesen Prozess unterstützt und zusätzlich typische Anwendungsfälle und Prompts bereitstellt. So können beispielsweise eingehende E-Mails automatisch mit dem korrekten Layout und der passenden Anrede vorbereitet und in einen Postausgang gelegt werden, wo sie dann von einem Mitarbeiter geprüft und versendet werden. Allerdings benötigen die Systeme für spezifische Anfragen, wie beispielsweise eine Terminverschiebung, noch Informationen vom Nutzer, da aktuell noch die Schnittstellen zu den Praxisverwaltungssystemen fehlen für eine vollautomatische Abwicklung.

Trotz dieser deutlichen Vorteile scheint die große Mehrheit der Zahnärzte noch nicht uneingeschränkt euphorisch in Bezug auf KI zu sein. Woran führen Sie diese Skepsis oder Zurückhaltung zurück?
Ich glaube, diese Skepsis wird sicherlich durch die oft kritische mediale Berichterstattung geschürt. Obwohl eine kritische Auseinandersetzung wichtig ist, kann sie viele davon abhalten, die Möglichkeiten der KI überhaupt erst einmal auszuprobieren. Ein weiterer Faktor ist die natürliche menschliche Zurückhaltung gegenüber Veränderungen. Gewohnte Arbeitsweisen und Tools werden nicht gerne aufgegeben, und die Einarbeitung in neue Technologien erfordert Zeit und Mühe. Zudem ist die Zahnmedizin möglicherweise von Natur aus eher übervorsichtig bei der Einführung neuer Technologien. Die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts führt auch dazu, dass Wissen schnell veraltet, was eine ständige Anpassung und Weiterbildung notwendig macht.
Stichwort Weiterbildung: Sehen Sie auch hier Potenzial für den Einsatz von KI?
Ja, absolut! Das traditionelle Schulsystem bietet oft einheitliche Lernmaterialien für alle, obwohl Menschen sehr unterschiedlich lernen. Mit KI können Lerninhalte personalisiert und in verschiedenen Formaten aufbereitet werden – als Comic, Text, Podcast oder Video. Dies eröffnet völlig neue Möglichkeiten des Lernens. Ich nutze dies bereits, um mir Fachliteratur als Podcast anzuhören, beispielsweise während der Autofahrt. Zukünftig wird die Kompetenz, zu wissen, wie man an die richtige Information gelangt, wichtiger sein als reines Auswendiglernen.
Sie haben vor kurzem Ihr Institut für angewandte Dentronik (IAD) gegründet. Wie kam es zu dieser Initiative?
Vor etwa zwei Jahren haben meine Kollegen und ich nach Servicerobotern und Reinigungsrobotern für die Praxis gesucht. Dabei stellten wir fest, dass es keine Institution gab, die sich mit solchen alltagsnahen Themen beschäftigt. Universitäten konzentrieren sich eher auf klinisch relevante Forschung. Gleichzeitig kam das Thema KI immer stärker auf, und wir waren fasziniert von den Möglichkeiten. Für mich persönlich war es auch eine Möglichkeit, mich in einem neuen Bereich zu engagieren und mein Wissen weiterzugeben, während ich die Praxis langsam übergebe. Da wir selbst niedergelassene Zahnärzte sind, verstehen wir die Bedürfnisse und Herausforderungen unserer Kollegen. Wir bieten unser Wissen und unsere Expertise im Rahmen des Instituts an, wobei Robotik das nächste große Thema sein wird.
Sie haben in einem Workshop das Beispiel EMS Airflow Master als Video gezeigt und wie Ihnen ChatGPT bei einem Problem helfen konnte.
Wir hatten in der Praxis tatsächlich einen kleinen Defekt an einem unserer EMS Airflow Master Geräte. Eine meiner Mitarbeiterinnen kam zu mir, weil das Gerät nicht richtig funktionierte und sie unsicher war, ob wir es einschicken oder reparieren lassen sollten. In diesem Moment kam mir die Idee, es einmal mit ChatGPT zu versuchen, ähnlich wie ich es kurz zuvor in einem Video mit einem anderen Gerät gesehen hatte. Ich bin dann mit der genauen Fehlerbeschreibung zu ChatGPT gegangen und habe das Problem geschildert. ChatGPT hat auf den ersten Blick erkannt, um welches Gerät es sich handelt und einige Rückfragen gestellt, um das Problem genauer zu verstehen. Im Endeffekt sind wir dann gemeinsam zu einem vernünftigen Resultat gekommen.In diesem konkreten Fall war es eine relativ einfache Ursache, nämlich eine Verstopfung in einer der Düsen. ChatGPT hat uns verschiedene Schritte zur Fehlerbehebung vorgeschlagen. Wir haben diese Schritte befolgt, und das Gerät funktionierte wieder. Die wichtigsten Erkenntnisse daraus waren für uns, dass KI eine niederschwellige und zeitsparende Möglichkeit sein kann, erste Lösungsansätze für Alltagsprobleme mit technischen Geräten zu finden. Es hat uns in diesem Fall möglicherweise den Anruf beim technischen Dienst und eine umständliche Reparatureinsendung erspart. Wir haben aber auch gelernt, dass man die Antworten der KI kritisch hinterfragen muss, da es auch zu Halluzinationen kommen kann, wie wir bei einem ähnlichen Test mit unserer Behandlungseinheit festgestellt haben.
Gibt es etwas, was Sie sich für die Zahnarztpraxis der Zukunft von der KI wünschen?
Ein zentrales Thema ist der Fachkräftemangel. Ich bin überzeugt, dass KI uns hier maßgeblich unterstützen und entlasten kann, indem delegierbare Aufgaben übernommen werden. Hier sehe ich auch eine enge Verbindung zur Robotik. Ich glaube, dass wir in Zukunft Roboter haben werden, die uns viele Routineaufgaben abnehmen können, bei denen die menschliche Präsenz nicht zwingend erforderlich ist, wie beispielsweise die Reinigung und Sterilisation. Dadurch können wir uns als Menschen auf den Kontakt mit den Patienten konzentrieren. Ich sehe im Moment keine andere realistische Lösung, um dem Fachkräftemangel und der Überalterung der Gesellschaft zu begegnen.