StartAllgemeinExklusiv aus Spanien: Zahnärzte inmitten des Chaos

Exklusiv aus Spanien: Zahnärzte inmitten des Chaos

Die Flutkatastrophe von Ende Oktober 2024 in der Provinz Valencia hat auch zahlreiche Zahnarztpraxen betroffen, deren Inhaberinnen und Inhaber stehen vielerorts vor dem Nichts.

Reportage von Daniel Izquierdo-Hänni

Die größte Naturkatastrophe in der Geschichte Spaniens brach am Dienstag, dem 29. Oktober des vergangenen Jahres über die Provinz Valencia herein. Nach monsunähnlichen Starkregen im Hinterland der Mittelmeermetropole stürzten Wasser, Schlamm und Schwemmgut wie eine Tsunamiwelle von den Bergen kommend in Richtung Meer. Der »Barranco del Poyo«, ein meistens ausgetrocknetes Bachbett, schwoll auf eine noch nie da gewesene Größe und brachte Tod und Verwüstung über die Ortschaften entlang des Flusslaufes. Die Bilder von Fahrzeugen, die von der Wucht der Flutwelle wie Spielzeug zu Schrottbergen aufeinandergetürmt worden sind, gingen um die Welt. Über 200 Menschen verloren an jenem Dienstagabend ihr Leben, Tausende ihre Lebensgrundlage, stieg doch das Wasser an bestimmten Stellen bis über zwei Meter hoch. Supermärkte und Coiffeursalons, Autogaragen und Bankfilialen, Kioske und Möbelgeschäfte – alles zerstört. Das gleiche gilt für unzählige Zahnarztpraxen, allein in den drei Ortschaften Aldaia, Catarroja und Benetusser gibt es rund vierzig davon.

Alles nur noch Schrott. Blick auf die Hauptstraße der Ortschaft Benetusser.

Das Haus der Großeltern

»Es kommt immer wieder vor, dass der Fluss über die Ufer tritt, aber wir hatten in der Praxis nie mehr als ein paar Fingerhoch. Aber dieses Mal …« Conrado Andrés betreibt zusammen mit seinem Sohn sechs Zahnarztpraxen in und um Valencia, von der Umweltkatastrophe ist lediglich jene in der Ortschaft Aldaia in Mitleidenschaft gezogen worden. Conrados Bruder, der an jenem Abend in jener Praxis gewesen ist, rief ihn an und berichte, dass das Wasser bereits auf über einen Meter gestiegen sei und er sich in Sicherheit bringen würde. Der Pegel stieg allerdings weiter bis knapp unter die Decke. »Niemand hat uns vor dem, was kommen könnte, gewarnt.« Ein Vorwurf an die regionalen Behörden, mit welchem der 66-jährige Zahnarzt nicht alleine dasteht.

Ein Standort weniger wäre für die Klinikgruppe von Conrado Andrés nicht wirklich ein Verlust, trotzdem ist er dabei, die Praxis wieder aufzubauen. Dass er dort sein Mikroskop für Zahnwurzelbehandlungen und den erst vor einem Jahr angeschafften Behandlungsstuhl verloren hat, ärgert ihn weniger als das Mobiliar, das zerstört worden ist. »Es ist das Haus meiner Großeltern. Wir hatten dort antike Möbelstücke drin, einen wertvollen Tisch, Stühle von damals. Und es war mein erster Standort, habe ich doch 1989 dort als junger Zahnarzt angefangen.« Familienerinnerungen, ein ganzes Berufsleben – Emotionen, die Dr. Andrés tief bewegen. Trotzdem zeigt er sich im Gespräch mit dem Dental Journal nicht melancholisch, vielmehr schaut er nach vorne. »¡Con esto vamos a poder!«. Das packen wir an!

Tausende Freiwillige machten sich in den ersten Tagen nach dem Unheil auf den Weg ins Katastrophengebiet, um Schlamm zu schippen und bei den Aufräumarbeiten zu helfen. »Mein Vater sagte mir, ich solle eine Pause einlegen.«, erklärt Conrado Junior im Zusammenhang mit der Unterstützung, die sie von völlig Unbekannten im Haus seiner Urgroßeltern erhalten haben. »Doch wie soll ich eine Pause einlegen, wenn um mich herum Menschen, die uns nicht kennen, wie wild schuften, um uns zu unterstützen?« Tatsächlich war die Solidarität der Bevölkerung riesig, auf 40‘000 bis 50‘000 wurde die Zahl der Helferinnen und Helfer während der ersten Tage geschätzt. Conrado-Vater sagt zum Schluss: »Da kamen Tausende, junge Männer und Frauen, aus Madrid oder Asturien, von überall her.«

Dr. Conrado Andrés (zweiter von rechts) zusammen mit Helfern vor dem, was einst seine erste Zahnarztpraxis gewesen ist.

Von null wieder anfangen

Etwas mehr als 30‘000 Einwohner zählt die Gemeinde Catarroja, acht Kilometer südlich von Valencia gelegen und einer der am schlimmsten betroffenen Ortschaften. Hier ist Marisa Fito aufgewachsen, hier lebt die Kieferorthopädin mit ihrer Familie und hier hat sie seit elf Jahren ihre Zahnarztpraxis. Oder besser gesagt: sie hatte. Denn von den drei Behandlungseinheiten, dem digitalen Röntgengerät, dem Intraoralscanner und was sonst noch in einer modernen Praxis mit insgesamt sieben Mitarbeitenden herumsteht, ist nichts übrig geblieben. Bis auf eine Höhe von 2,20 Meter zeichneten Wasser und Schlamm die Wände der Praxis modrig-braun. Ein Pegelstand der Zerstörung …

Auf dem Weg zum Treffen mit Marisa Fito fährt das Dental Journal am Katastrophenschutz und an Armee-Einheiten vorbei, die weiter mit Aufräumarbeiten beschäftigt sind. Für das Gespräch, das in einem der wenigen Straßencafés stattfindet, die wieder geöffnet haben, ist nicht viel Zeit, muss sie sich gleich weiter zur Baustelle, die einst ihre Zahnarztpraxis gewesen ist. »Die Versicherung zahlt 130‘000 Euro. So viel kostet mich allein die Wiederherstellung der Räumlichkeiten, von Wasser und Strom, von Boden, Decken und Wänden.« erklärt die Kieferorthopädin und schätzt die Kosten für die neuen Geräte auf rund 180‘000 Euro. Eigentlich hatte die 51-Jährige vor, in den kommenden Jahren eine zusätzliche KFO-Spezialistin unter Vertrag zu nehmen, sich vermehrt um die Administration zu kümmern und etwas mehr Zeit für sich zu haben. Doch nach dem 29. Oktober wird daraus nichts. »Ich möchte dreißig Jahre in diesem Beruf nicht einfach so aufgeben. Abgesehen davon, dass mir jetzt nichts anderes übrig bleibt, als voll zu arbeiten. Nicht nur um die Zahnarztpraxis abzubezahlen, sondern auch die Ausbildung meiner Kinder.«

Unterhält man sich mit Marisa Fito, so stellt man schnell fest, dass es sich um eine selbstbewusste und zuversichtliche Frau handelt, kommt man jedoch auf die Opferzahlen der Katastrophe in ihrem Heimatort zu sprechen, trübt sich ihr Blick. »Es war wirklich schrecklich. Von den Balkonen versuchte man mit heruntergelassenen Leintüchern Menschen zu retten, die von den Fluten mitgerissen wurden.« Als das Wasser anfing, in die Zahnarztpraxis einzudringen, schlossen die zwei anwesenden Assistentinnen das Lokal und setzten sich ins Auto. Doch sie kamen nicht weit und mussten sich auf einer Anhöhe vor dem Wasser in Sicherheit bringen. Insgesamt wurden bei dieser Naturkatastrophe rund 120‘000 Fahrzeuge zerstört, von den über 200 Toten stammen 25 aus Catarroja. Marisa Fitos Erkenntnis, bei der Anschaffung neuer Gerätschaften die Versicherungspolice der Zahnarztpraxis zu aktualisieren, scheint im Gegensatz zum Verlust von Leben beinahe banal. Eine Erkenntnis, die sie jedoch mit all ihren Kolleginnen und Kollegen teilen möchte.

Schlamm geht durch jede Ritze, dieser Fuß konnte allerdings repariert werden.

Glück im Unglück

Glück im Unglück, und zwar gleich im doppelten Sinne, hatte Ana Martínez in Benetusser. Der letzte Patient, der auf 19 Uhr terminiert gewesen war, sagte ab, sodass das Team frühzeitig Feierabend machte und nach Hause ging, bevor das Wasser kam. Anas Praxis befindet sich zudem im Hochparterre des Wohnblocks, in welchem die Zahnärztin lebt. Und so beobachtete sie entsetzt von ihrem Zuhause, wie die braune Brühe im Innenhof des Komplexes beinahe zu ihr im ersten Stockwerk anstieg.

Als nach drei Tagen der Strom zurückkehrte und sie ihre Klinik betrat, stellte sie fest, dass das Wasser lediglich dreißig Zentimeter hochgestanden ist. In den tieferen Schubladen abgelegte Dokumente, in den unteren Bereichen eingelagertes Material wie etwa Implantate im Wert von 5000 Euro sowie ebenerdige Technologie wie zum Beispiel die Fußelemente der beiden Behandlungseinheiten waren zerstört. »Der eine Stuhl konnte repariert werden, der andere war schon etwas älter, weshalb es keine Ersatzteile mehr gab.«, erklärt Ana Martínez und erzählt, dass sie einen Lieferwagen gemietet hat, mit diesem nach Barcelona hochgefahren ist und dort ein gebrauchtes Modell gekauft hat. Mitte Dezember, also sieben Wochen nach dem Unglück, konnte die Zahnärztin den Betrieb in ihrer Praxis wieder aufnehmen. Allerdings ohne Radiografien machen zu können. Das digitale Röntgengerät hat zwar lediglich nasse Füße bekommen und ist somit funktionsfähig, die zerstörte Strahlenschutz-Türe konnte allerdings noch nicht ersetzt werden.

Ana Martínez weiß, dass sie Glück im Unglück gehabt haben. Im Geschäft wie auch privat. Ihr Gatte wollte an jenem Dienstagnachmittag in die Tiefgarage runter, um den Wagen rauszufahren, als er einem Nachbar begegnete. Der hatte bis zur Hüfte im Wasser gestanden und ihn aufgefordert, wieder nach oben zu gehen. Wie viele der Opfer in den Tiefgaragen ertrunken sind, weiß man nicht genau. Wenige waren es jedoch nicht. Während des Gesprächs mit dem Dental Journal bekommt Ana Martínez immer wieder feuchte Augen, irgendwann kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. »Weißt Du, was das Allerschlimmste gewesen ist? Als die Polizei mich um zwei Patientenakten bat, um mittels Zahnbefund Leichen identifizieren zu können. So was kannst Du Dir nie im Leben vorstellen, wenn Du als Zahnärztin arbeitest.«

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