Donnerstag, Oktober 3, 2024
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Die stille Epidemie: Wurzelkaries im Fokus der Alterszahnmedizin

Experte Prof. Dr. Roland Frankenberger über Risikofaktoren, frühzeitige Erkennung und innovative Behandlungsmethoden der zunehmenden Herausforderung bei älteren Patienten

Wurzelkaries ist keine „neue“ Erkrankung, tritt Berichten zufolge jedoch aufgrund der höheren Lebenserwartung und der Tatsache, dass Patienten ihre natürlichen Zähne bis ins hohe Alter behalten, immer häufiger auf. Das dental JOURNAL hat dazu in einem Podcast Prof. Dr. Frankenberger interviewt. Der folgende Artikel ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte des Podcasts mit Prof. Dr. Frankenberger auf Spotify.

dental JOURNAL: Wie sehen Sie die Entwicklung der Wurzelkaries aus Ihrer eigenen Erfahrung?
Roland Frankenberger: Die Wurzelkaries ist quasi die Rache der Zahnerhaltung und Parodontologie. In den letzten 50 Jahren haben wir unwahrscheinlich große Fortschritte in der Zahn-Erhaltung gemacht. Das Problem ist, je länger wir die Zähne erhalten, desto eher schauen sie später mal aus dem Zahnfleisch heraus und sind dann irgendwie mit Prädilektionsstellen für Wurzelkaries übersät. Wir haben sehr, sehr viele Patienten, denen wir die Zähne bis ins hohe Alter erhalten und dann kommt die Wurzelkaries. Die Pandemie war da zum Beispiel ein sehr starker Verstärker. Vor allem die Auswirkungen, wenn man das zu lange hinauszögert oder Patienten eine längere Zeit nicht zum Recall kommen, sind eklatant, weil die Wurzelkaries relativ schnell fortschreitet und diverse Co-Faktoren das Ganze begünstigen. Für mich ist die Wurzelkaries in der Zahnmedizin das, was der Diabetes Typ 2 für die innere Medizin ist.  Da wird definitiv von dem, was wir von den Prävalenzzahlen und aus eigener Erfahrung kennen, eine große Welle auf uns zurollen, gegen die wir gewappnet sein müssen. Die Zahnerhaltung der heutigen Zeit hat aktuell drei Probleme: Erstens: Es gibt große Unterschiede, wie die Leute Karies exkavieren. Zweitens: Viele Zahnerhalter denken, man kann mit Komposit alles lösen. Das sehe ich überhaupt nicht so. Und drittens, wenn wir die Wurzelkaries in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren nicht vernünftig präventiv in den Griff kriegen, dann werden wir übersprungen und es gibt dann gleich die Prothese oder das Implantat und es wird keine Füllung mehr stattfinden. Das heißt, wir sollten versuchen mehr Wurzelkariesforschung zu betreiben. Ich bin da ein Vorreiter. Ich habe 2022 in meiner Poliklinik eine Professur für Kariologie des Alterns aufgestellt. Mir ist es gelungen, mit Frau Professor Ganß aus Gießen eine weltweit anerkannte Kariologin zu gewinnen, die das Ganze sehr stark von der präventiven Seite angeht. Und von daher wird man da von uns noch einiges hören und noch einiges erwarten können.

Dr. Frankenberger: “Für mich ist die Wurzelkaries in der Zahnmedizin das, was der Diabetes Typ 2 für die innere Medizin ist.”

dental JOURNAL: Ab wann wird die Wurzelkaries zum Problem? Kann man das etwas eingrenzen?
Wir sehen in Deutschland einen deutlichen Sprung zwischen den 30er Jahren und ab Mitte 40. In der Deutschen Mundgesundheitsstudie steigt die Prävalenz dann von 12 auf 28 Prozent an. Bei sehr alten Menschen mit weniger Zähnen nimmt es numerisch nicht mehr so stark zu, aber was extrem zunimmt, ist die Zahl von Patienten mit extrem viel Plaque. Die Zahlen sind schon deutlich, wenn man das von der Prävalenz her betrachtet. Das steigt also nach dem 45. Lebensjahr sprunghaft an und es wird ja immer die Frage gestellt, ist das jetzt eine altersabhängige Geschichte? Eigentlich nicht. Aber das wird zum Problem, wenn Patienten exponierte Wurzelhautoberflächen zeigen Risikofaktoren wie Fehlernährung und Medikamente dazukommen. Sehr oft sind gerade die am meisten verschriebenen Blutdrucksenker auch speichelhemmend. Die Patienten haben meist keine Ahnung, dass sie davon einen trockenen Mund bekommen. Mit einem systematischen Fragebogen kann man das aber gut erkennen. Dann ist da die Fehlernährung mit zu vielen Süßigkeiten und Kohlenhydraten. Mit zunehmendem Alter lässt die Fähigkeit nach, Süßes richtig zu schmecken. Also essen die Leute noch mehr Zucker. In Altersheimen steht immer Kaffee und Kuchen auf dem Tisch. Hinzu kommen schlechte Mundhygiene und der Verlust der Papillen, wodurch mehr Wurzeloberfläche exponiert ist. Oft haben auch die Betreuer in Pflegeheimen selbst keine Ahnung von richtiger Mundhygiene.

dental journal: Also doch vor allem falsche oder fehlende Mundhygiene?
Absolut, weil da wo kein Biofilm ist, wird keine Karies entstehen, nie im ganzen Leben. Da wo keine kurzkettigen Kohlenhydrate sind, wird keine Karies entstehen, das ist eigentlich relativ klar. Aber wir sehen halt einen sehr, sehr starken Zusammenhang zwischen den Risikofaktoren wie vor allem Ernährung, Exposition, Verlust der Papille. Deswegen habe ich gesagt, Zahnerhaltung und Parodontologie. Die Parodontologie erhält die Zähne sehr lange. Aber durch den Verlust der Papille nach einer normalen Parodontalbehandlung in einem höheren Stadium ist einfach deutlich mehr Wurzelhautoberfläche exponiert und die Wahrscheinlichkeit von Wurzelkaries steigt dramatisch an. Es ist also ein Cluster von Risikofaktoren, die zusammenkommen. In unseren Studien zeigt sich ein enormer Anstieg der Prävalenzen von 1997 bis 2005 um 190 Prozent.

dental JOURNAL: Wie erkennen Sie das Risiko für einen Patienten frühzeitig?
Wir machen eine umfangreiche Anamnese, erfragen Medikamente, messen den Speichelfluss. Entscheidend sind aber Bissflügelaufnahmen alle 2-3 Jahre, bei Risikopatienten öfter. Auf Bissflügeln sieht man die Karies sehr früh im zervikal-approximalen Bereich. Warnzeichen für Risikopatienten sind auch, wenn die Leute schlecht rasiert sind oder Knöpfe durch Reißverschlüsse ersetzt haben – das zeigt oft nachlassende manuelle Fähigkeiten begleitet von einem verwahrlosten Mundraum. Wenn ich sowas sehe, bin ich alarmiert. Denn das sind sehr oft Patienten, die dann im Mund ein entsprechendes Mikrobiom und ein hohes Kariesrisiko haben.

Prof. Dr. Roland Frankenberger

dental JOURNAL: Gehen Sie bei erkanntem Risiko präventiv vor und wie?
Absolut. Prevention first, restoration second! Das Erste, was in unserer Wurzelkariessprechstunde großgeschrieben wird, ist zunächst eine umfangreiche Anamnese. Die Polypharmazie nimmt jenseits des 60. Lebensjahres deutlich zu. Und die Medikamente haben viele Wechsel- und Nebenwirkungen, leider sehr oft auch den Speichelfluss betreffend. Wenn man spezifische Fragen stellt, ob sie nachts mit trockenem Mund aufwachen oder ein Glas Wasser brauchen, um besser schlucken zu können, kriegt man schnell heraus, ob sie eine Xerostomie haben oder nicht. Und das ist natürlich ein wahnsinniger Risikofaktor. Das heißt, wir klopfen erstmal anamnestisch die ganzen Kernprobleme ab. Wir schauen uns parallel die Mundhygiene an und versuchen diese durch intensives Training zu verbessern. Die Leute wissen oft nicht, wie man richtig putzt und auf welche Prädilektionsstellen es ankommt. Wir färben die Zähne an und machen 3D-Scans, damit sie ihre Schwachstellen auf dem Monitor sehen können. Was ich bei vielen Patienten heute mache, ist eine Ernährungsanamnese. Die sollen mir einfach mal eine Woche lang aufschreiben, was sie so essen und trinken. Es ist unfassbar, was man da erlebt. Und es ist zwar in der Literatur relativ umstritten, aber ich kann aus meiner Erfahrung klar sagen, ich sehe einen signifikanten Verlust der gustatorischen Fähigkeiten, gerade für Süßes. Die alten Menschen schmecken teilweise Süßes nur noch halb so gut wie in ihren 30er Jahren. Die zuckern dann noch mehr und essen noch mehr Süßigkeiten. Und wenn sie in Altersheime gehen, was steht da auf dem Tisch? Kaffee und Kuchen. Das ist immer das Gleiche. Ich will keinem von den älteren Menschen einen Vorwurf machen. Aber Tatsache ist, dass das natürlich kombiniert mit den Risikofaktoren dann wahnsinnig schnell gehen kann. Wenn sie noch Zähne im Mund haben ist es wirklich eklatant, dass mit der Fehlernährung, die wir aller Orten sehen, dann auch wirklich das Risiko dramatisch ansteigt. In der frühzeitigen Behandlung versuchen wir mit hohen Dosen an Fluorid, die aktiven Läsionen in arretierte zu überführen. Das funktioniert relativ gut. Provisorisch decken wir Stellen mit Glasionomerzement ab, das schützt durch Fluoridabgabe – aber nicht als Definitivmaterial. Und dann werden meiner Meinung nach in der Kariologie noch generell viel zu wenige Bissflügelaufnahmen gemacht. Da erkennt man Wurzelkaries dann schnell, weil gerade die Wurzelkaries approximal unwahrscheinlich leicht übersehen wird. Wenn man mit der Sonde „hineinfällt“, ist es oft schon fast zu spät. Klare Anamnese, genaue Befunderhebung, sich die Medikamente anschauen, auch mal eine Speichelfließrate messen und dann wirklich stringent mindestens alle drei Jahre Bissflügelaufnahmen machen. Und wenn es ein Hochkariesrisikopatient ist, alle zwei Jahre.

dental JOURNAL: Wie behandeln Sie denn die Wurzelkaries restaurativ?
Wenn eine Restauration erforderlich ist und man eine Füllung legen möchte, bevorzuge ich zunächst die Anwendung von Glasionomerzement. Dieser dient quasi als Erste-Hilfe-Maßnahme oder Pflaster für den Zahn. Das Glasionomerzement sieht zwar optisch nicht optimal aus und bietet keine ideale Retention, aber er hat den großen Vorteil einer hohen Fluoridabgabe. Das hilft mir, Zeit für die Verbesserung der Mundhygiene zu gewinnen. Daher erachte ich Glasionomerzemente in der Alterszahnheilkunde als sehr wichtig, jedoch nicht unbedingt als definitives Material. Mein Ziel ist es, die Situation so weit zu verbessern, dass ich eine adhäsive Füllung legen kann, die am Zahn haftet, wenn ich die Trockenlegung entsprechend gut hinbekomme. Im zweiten Schritt versuche ich dann, sofern die gesamte Präventionsschiene gut funktioniert, mit Komposit zu arbeiten und eine definitive Füllung zu legen.

Dazu ein paar Tipps und Tricks aus der Praxis: Die Exkavation sollte nicht rotierend erfolgen, da ein drehender Bohrer unter der Gingiva zu starken Blutungen führt und man die Situation nicht mehr unter Kontrolle bekommt. Stattdessen arbeiten wir oszillierend mit einseitig diamantierten Schallspitzen. Dies funktioniert hervorragend und verursacht deutlich weniger Blutungen. Zervikal verwenden wir gerne Stahlmatrizen, die eigentlich nur für den Seitenzahnbereich vorgesehen sind. Man kann sie jedoch sehr gut und schräg unter das Zahnfleisch schieben. Dieser Trick hilft uns enorm. Wir setzen fast ausschließlich fließfähige Komposite ein, da man mit ihnen in kurzer Zeit Bereiche quasi ausspritzen kann, für die man bei anderen Kompositen deutlich länger benötigt – gerade bei kariesanfälligen Stellen ist Tempo wichtig. Ein witziger Trick ist, bei transparenten Matrizen mit der Diamantspitze ein Loch hineinzubohren und den Defekt durch dieses Loch zu füllen. Das geht superschnell und einfach, ich habe dazu mit der Firma GC gerade ein paar Videos am Patienten gedreht.

Ein weiterer essenzieller Punkt ist die sogenannte “Deep Margin Elevation“, bei der wir den sehr tiefen approximalen Rand mit Komposit anheben. Dafür nutzen wir die Zweischichttechnik mit einer zugeschnittenen Tofflemire-Matrize für die erste Schicht und anschließend einer Kompositfüllung darüber.

Im Laufe der Jahre haben wir einige Techniken und Tricks für die Behandlung der Wurzelkaries entwickelt, die sich als sehr hilfreich erwiesen haben. Dennoch gibt es immer wieder Fälle, in denen die Karies zu weit fortgeschritten und zirkulär ist, so dass nur eine prothetische Versorgung bleibt. Hier muss man ehrlich und demütig sein – nicht jede Situation lässt sich sinnvoll mit Komposit versorgen, da dies sehr zeitaufwändig wäre und möglicherweise nicht funktioniert. In solchen Fällen ist eine Krone oder Brücke die bessere Option. Aber wir versuchen stets den minimalinvasiven Weg zu gehen, solange es möglich ist. Aber: Wir können nicht jeden „Scherbenhaufen“ adhäsiv beherrschen. Aber wir versuchen es so lange wie möglich mit Füllungen, ich biete regelmäßig praktische Kurse zu meinen Behandlungstechniken an. Das Feedback ist oft: “Hätte ich das mal früher gewusst, wie einfach das geht!” Viele Praxen haben große Probleme mit Wurzelkaries, daher ist das Thema sehr stark nachgefragt.

Prof. Dr. Roland Frankenberger
Direktor
Poliklinik für Zahnerhaltung
UniversitätsZahnMedizin
Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Gießen und Marburg
Georg-Voigt-Str. 3, D-35039 Marburg

Oliver Rohkamm
Oliver Rohkamm
Immer auf der Suche nach neuen zahnmedizinischen Innovationen. Hat ein Faible für alles, was mit dem digitalen Workflow in der Zahnmedizin zu tun hat. Zusätzlich interessiert er sich für Computer und alles was zwei Räder hat. In der Freizeit ist er vor allem auf dem Motorrad, Rennrad oder Mountainbike zu finden.
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