Gastbeitrag von Elisabeth Kalczyk, BA
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde unter dem Begriff „Ergonomie“ die Ausarbeitung von Konzepten verstanden wie Arbeitnehmer effektiver und effizienter ihren Aufgaben nachgehen konnten. Dabei standen Gesundheitsaspekte eher im Hintergrund. Ab den 1960er Jahren verstand sich die Ergonomie als Wissenschaft, die zur Verbesserung der Qualität des Arbeitslebens mit gleichzeitiger Optimierung der Arbeitsergebnisse befasste. Heute geht es bei der Ergonomie in erster Linie darum die Arbeit respektive deren Prozesse dem Menschen anzupassen, und nicht umgekehrt. Die korrekte Körperhaltung, die richtige Patientenlagerung oder die optimale Einstellung von Geräten und Instrumenten sind Bereiche im zahnmedizinischen Alltag, mit welchen sich die moderne Ergonomie befasst. Aber auch ein gesundheitsförderndes Freizeitverhalten und die Vermeidung von Stress sind wichtige Aspekte der Ergonomie. All diese Bereiche beeinflussen sowohl unser Wohlbefinden wie auch die Fragestellung, ob und wie lange wir leistungsfähig, körperlich und psychisch gesund bleiben.
Unterschiedliche Gründe für Arbeitsabsenzen
Sitzen und Stehen zählen zu den belastendsten Körperhaltungen für die Bandscheiben. Beim Sitzen werden die elastischen Bandscheiben, die als Puffer, Gelenk und zur Hemmung übermäßiger Bewegungen dienen, bis zu 10% geschrumpft. Gerade die Gelenke brauchen Bewegung, denn nur dank dieser werden die Gelenke ausreichend mit Gelenksflüssigkeit versorgt. Nicht von ungefähr heißt es: „Wer rastet, der rostet“. Wirbelsäulenprobleme, Nacken und Schulterschmerzen sind häufige Leiden im zahnärztlichen Berufsumfeld. Als Ursachen für Frührenten werden an erster Stelle psychische Erkrankungen wie etwa Burnout oder Depressionen aufgeführt, gefolgt von Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems sowie, an dritter Stelle, Erkrankungen des Bewegungsapparates. Sieht man sich die Ergebnisse der Statistiken an, so sollte die Ergonomie im Arbeitsalltag eine wichtigere Rolle einnehmen als sie es aktuell tut.
Ergonomische Realität im Arbeitsalltag
Die Arbeit am Patienten ist geprägt von einer Zwangshaltung, einer statischen Arbeitsweise und einem oft schlecht zugänglichen, begrenzt einsehbaren Arbeitsfeld. Meist wird mit gekrümmtem, seitlich verdrehtem Rücken und weit von Körper abgespreizten Armen gearbeitet. In der zahnärztlichen Stuhlassistenz ist die eigene Arbeitsposition oft vom ergonomischen Verhalten des Behandlers abhängig. Wie der Patient gelagert wird, auf welche Höhe der Patientenstuhl eingestellt ist, ob der Behandler sitzt oder steht oder der Größenunterschied zwischen Assistenz und Behandler sind Umstände, die Einfluss auf die Ergonomie haben. Aber auch während der Prophylaxesitzung, die meist nur von einer Person durchgeführt wird, ist das eigene Verhalten, die Ausstattung des Arbeitsplatzes sowie die Auswahl der Geräte und Instrumente wichtig. Auch hier geht es um die Frage, ob man die richtige Sitzposition einnehmen und die Behandlungseinheit für sich selbst ergonomisch optimal einstellen kann, wobei diese letztlich auch vom jeweiligen Patienten abhängt. Wer kennt nicht diverse Kontraindikationen der Patienten wie etwa Herz-Kreislauferkrankungen, Lungenprobleme oder eine Schwangerschaft im 3. Trimester? Aber auch persönliche Befindlichkeiten wie etwa „Mir wird schwindelig, wenn ich so tief liege“ oder „In dieser Position tut mir mein Kreuz weh“ verhindern oftmals eine optimale Platzierung von Körper und Kopf des Patienten. Hinzu kommt, dass Materialien, die gerade benötigt werden, nicht in Greifweite oder auffindbar sind, dass das Telefon während der Behandlung nicht aufhört zu Klingeln und dass ständig die Tür zum Behandlungszimmer aufgerissen wird, weil jemand etwas wissen will. Solche Szenarien hat wohl jeder Dentalprofi schon einmal erlebt: der Arbeitsablauf wird gestört und unterbrochen! Umstände, die angenehmes, störungsfreies Arbeiten nicht nur verunmöglichen, sondern auf Dauer auch Körper und Psyche belasten.
Bereits heute an übermorgen denken
Solange man jung, gesund und beschwerdefrei ist, macht man sich meist keine großen Gedanken um die eigene Gesundheit und die Leistungsfähigkeit in einer näheren oder weiteren Zukunft. Gerade aus diesem Grund sollte man nicht vergessen, dass sich die Folgen von Fehlhaltungen sowie chronischen psychischen und körperlichen Belastungen meist erst langfristig einstellen. Umso wichtiger ist es durch gelegentliche Selbstkontrolle und einzelne, umsetzbare Maßnahmen das eigene Verhalten sowie die beeinflussbaren Arbeitsbedingungen zu verbessern und so aktiv zur eigenen Gesundheit und Wohlbefinden beizutragen.
Richtig sitzen
Aktives Sitzen, mit aufgerichteten Becken und Oberkörper, überlastet die Wirbelsäule zwar nicht, ist mit der Zeit aber auch anstrengend, da man dafür eine gewisse Muskelspannung aufrechterhalten muss. Beim passiven Sitzen, mit rundem Rücken und hängenden Schultern ermüdet man zwar nicht so schnell, aber die Bandscheiben werden massiv überlastet. Bei der idealen Sitzposition, wie sie in Literatur beschrieben wird, sollte der Winkel zwischen Oberschenkel und Unterschenkel 110° betragen. Die Unterschenkel müssen senkrecht und die Füße fest auf den Boden stehen. Die Knie werden schulterbreit geöffnet. Die Oberschenkel und das Gesäß sollten sich nur zu 2/3 auf der Sitzfläche befinden. Die Oberarme hängen locker am Körper und angewinkelte Unterarme sollten abgestützt werden. Der Kopf ist nicht mehr als 20° geneigt. Die Fingerspitzen befinden sich auf Höhe des Herzens und die Augen sind etwa 40cm vom Arbeitsfeld entfernt. Damit diese Referenzhaltung möglich ist, muss die Behandlereinheit richtig eingestellt und der Patient optimal gelagert werden. Das heißt, dass das Becken des Patienten am als tiefsten Punkt gelagert werden und der Kopf des Patienten so weit wie möglich überstreckt sein sollte. Arbeitsmaterialien und Instrumente liegen optimalerweise vorbereitet innerhalb des physiologischen Greifraums. Damit wird jener Bereich bezeichnet, den man mit Armen und Händen gut erreichen kann, ohne dass die Schultern oder der Körper gedreht werden muss.
Praktische Ratschläge
Abwechselnde Bewegungen sind für den Körper und die Konzentration förderlich. Minipausen einlegen und zur Vorbeugung vor Augenermüdung immer wieder mal in die Ferne schauen. Auch das Blinzeln und das Gähnen (füllt Augen mit Tränenflüssigkeit) entspannt die Augen. Kleine Übungen wie „Äpfel pflücken“ oder die Schultern beim Einatmen zu den Ohren ziehen und beim Ausatmen die Schulter fallen lassen, sind kurze und schnell durchführbare Entlastungsübungen. Damit der Patient entspannt in die Rückenlage gebracht werden kann, empfiehlt sich eine stufenweise Anpassung und eine Rolle oder Kissen unter die Kniekehle. Lehnt der Patient nur aufgrund persönlicher Befindlichkeiten die Rückenlage ab, kann man diesen mit einem gewissen Augenzwinkern fragen, ob er nachts sitzend schlafen muss. Die meisten Patienten sind einsichtig, wenn man ihnen erklärt, dass die adäquate Lagerung sowohl für die Qualität der zahnmedizinischen Arbeit als auch zum Erhalt der langfristigen Leistungsfähigkeit des Behandlers notwendig ist. Die Liegezeit des einzelnen Patienten pro Behandlungsfall steht in keinem Verhältnis zur täglichen Beanspruchung und Belastung des Zahnärzteteams. Daher ist es legitim Verständnis und Compliance des Patienten einzufordern.