StartInterview«Mittelfristig steht unser Selbstverständnis als Zahn- oder Oral-Mediziner auf der Prüfbank.»

«Mittelfristig steht unser Selbstverständnis als Zahn- oder Oral-Mediziner auf der Prüfbank.»

Gespräch über die Zukunft der Zahnarztpraxen mit Dr. med. dent. Müller, Schaffhausen

Anfang dieses Jahres nahm Dr. med. dent. Thomas Müller an der Diskussionsrunde über die Zahnarztpraxis der Zukunft teil, welche von der Schweizerische Gesellschaft für Orale Implantologie SGI in Bern durchgeführt wurde. Zweifelsohne ein interessantes Thema, welches das Dental Journal Schweiz mit dem Partner einer Zahnarztpraxis in Schaffhausen in einem Zwiegespräch vertiefen möchte.

Gleich wie sich die Odontologie als zahnmedizinische Wissenschaft laufend weiterentwickelt, so verändern sich auch laufend das Umfeld, in welchem sich eine Zahnarztpraxis behaupten muss. Neue Geschäftsmodelle mit aggressiven Werbekampagnen verschärfen die Konkurrenzsituation, immer anspruchsvollere Patienten verlangen von Zahnarzt und Team eine aufwendigere Betreuung und, last but not least, beeinflussen CAD/CAM und der digitale Workflow das Leistungsangebot einer Zahnarztpraxis.

In diesem Sinne lautet die erste Frage: Ist die Zahnmedizin, die Arbeit am Patienten, eigentlich noch ein Feinhandwerk?
Die Arbeit am Patienten ist in der Zahnmedizin ein sehr vielschichtiges Thema. Mit den heutigen e-Patienten («e» steht für «educated» oder «empowered») kann man nicht mehr «einfach drauflos bohren», sie wollen gut aufgeklärt sein. Zudem bringen sie häufig ein besseres Wissen zu eigenen Erkrankungen mit als der behandelnde (Zahn-)Arzt. Myoarthropathien, Kieferorthopädie und Implantologie sowie Prothetik erfordern ein hohes Mass an anamnestischen und auch psychologischen Fähigkeiten, um überhaupt zur eigentlichen Therapie zu kommen. Aber ja, dominierend in der Zahnmedizin sind immer noch feinhandwerkliche Eingriffe, manchmal auch kunsthandwerkliche.

Dies gilt auch im digitalen Zeitalter?
Auch die beste CAD-CAM hergestellte Rekonstruktion erfordert manuelles Geschick bei der Eingliederung. Und chirurgische Arbeiten sind heute noch weit entfernt von künstlicher Intelligenz und Robotik. Kombiniert mit den Möglichkeiten, ein eigenes Unternehmen zu führen, eröffnet einem die Zahnarztpraxis von heute grossen und vielfältigen Herausforderungen. Der rasante Einzug von digitalen Helfern verändert unsere Arbeit bereits heute. Mittelfristig steht jedoch unser Selbstverständnis als Zahn- oder Oral-Mediziner auf der Prüfbank.

Dr. Thomas Müller (links) mit seinem Geschäftspartner Dr. Benjamin Weidman: «Die Erfolge der Prävention zeigen ihre Spuren und es werden immer weniger rekonstruktive Massnahmen gefragt sein.»

Welche Bedeutung hat die minimalinvasive Medizin auf das Verständnis der Patienten für die Zahnmedizin respektive das Leistungsangebot einer Zahnarztpraxis?
Grundsätzlich sind minimalinvasive Ansätze sehr zu begrüssen. Sie erlauben orale Strukturen (Zahn oder Weichgewebe) sehr viel schonender zu behandeln und vor allem länger zu erhalten. Das hat grundsätzlich nur positive Seiten für den Patienten: Dritte Zähne können immer weiter in die Zukunft verschoben werden. Für den Zahnarzt stellen minimalinvasive Eingriffe aber oft Herausforderungen dar, die profund erlernt werden müssen. Ein minimalinvasiver Parodontal-Eingriff beispielsweise ist bei weitem komplexer als ein typischer PAR-Eingriff noch vor 30 bis 40 Jahren. So muss zum Beispiel unter dem Mikroskop gearbeitet werden.

Und dies ist nicht immer einfach?
Wer schon mal versucht hat, eine 7-0-Naht unter dem Mikroskop zu legen, weiss, was ich meine. Auch minimalinvasive Kariesbehandlung wie etwa Infiltrationstechniken oder minimalinvasive Präparations- und Versorgungstechniken sind nicht per se simpler, weil sie «minimal» im Namen tragen. Im Gegenteil: Sie erfordern ein hohes Fachwissen in Bezug auf Materialien und Anwendungen und bedingen eine ruhige Hand in der Umsetzung. Minimalinvasive Methoden unterstützen eine nachhaltige Patienten- respektive Kunden-Bindung und können als Sinnbild für «primum nihil nocere» verstanden werden. Daher sind sie begrüssenswert!

Ist die Zahnmedizin aus Ihrer Sicht eine Dienstleistung? Oder ist dies ein Begriff, der von vielen Odontologen verabscheut wird?
Ich gehe regelmässig zu unseren Prophylaxemitarbeiterinnen. Ich habe das Glück und die prophylaktischen Fähigkeiten, dass ich seit über 20 Jahren keine Füllung mehr brauchte und keine parodontale Tasche über 3mm habe. Wenn ich also zur Prophylaxe-Sitzung komme, verstehe ich mich in keiner Weise als Patient, sondern als Kunde. Und als solcher beweise ich ein wenig Eitelkeit: ich möchte saubere, weisse Zähne haben – auch wenn Kaffee oder guter Wein immer ihre Spuren hinterlassen. In der Prophylaxesitzung beziehe ich also vorwiegend eine Dienstleistung.

Dr. Thomas Müller (links) versteht sich als Teil seines Teams: «Betrachtet man das Unternehmen Zahnarztpraxis als «Lebewesen», wird klar, dass jedes seiner Organe von der Gesundheit und Funktionstüchtigkeit der anderen Organe abhängen.»

Und wie sieht es bei einem zahnmedizinischen Eingriff aus?
Auch viele zahnärztliche Eingriffe kann man zum Bereich der Dienstleistungen zählen. Viele Zahnärzte verabscheuen den Dienstleistungsgedanken, weil sie sich als Arzt dadurch missverstanden oder gar degradiert fühlen. Der Dienstleistungsbegriff in der Zahnarztpraxis entstammt einem tieferen Verständnis zu Qualitätsmanagement. In Bezug auf Qualität spielt die zahnärztliche Behandlung zwar eine unverändert zentrale Rolle, wird aber erweitert durch eine konsequente Kunden-Ausrichtung: Von der Kundenaufnahme bis zur Verabschiedung, von den Führungsprozessen bis zu den Supportmassnahmen (Administration, Hygiene und Wartung, Materialwesen). Überall wird ein hohes Mass an Kundenorientierung erwartet. Kombiniert mit hervorragender ärztlich-therapeutischer Tätigkeit ergibt sich aus dieser Logik heraus eine hervorragende Gesamtdienstleistung. Die Kunden mögen das – sogar dann, wenn sie sich manchmal selbst als Patienten verstehen.

An der SGI-Veranstaltung in Bern haben Sie gesagt, dass jene Zahnarztpraxen, die nicht agil sind, untergehen werden. Warum?
Unter Agilität verstehe ich die Fähigkeit eines Systems sich rasch und adäquat an neue Umstände anzupassen. Veränderungen lösen in der Regel Angst aus und regen uns an, ein typisches Verhalten von «Fight, Flight or Freeze» anzunehmen. «Freeze» ist meistens die schlechteste Überlebensstrategie. «Fight or flight» setzt Bewegung voraus. Wir sind zunehmend als ganzes Team gefordert uns sehr rasch an neue Umstände anzupassen, uns zu bewegen. Gute Beispiele sind die Corona-Krise, veränderte Marktverhältnisse oder der «digitale Druck».

Welche Rolle spielt dabei das Praxisteam?
Wir sind gefordert unsere gesamte «Teamintelligenz» zu nutzen, um die anstehenden Probleme oder Veränderungen zu meistern. Das erfordert ein hohes Mass an Team-Kollaboration gepaart mit kompatiblen Führungsmodellen. Die typischen, hierarchischen Führungsmodelle, als Beispiel können Kirche, Armee oder Konzerne genannt werden, eignen sich schlecht für kollaborative Systeme. Betrachtet man das Unternehmen Zahnarztpraxis als «Lebewesen», wird klar, dass jedes seiner Organe von der Gesundheit und Funktionstüchtigkeit der anderen Organe abhängen. Das zentrale Nervensystem oder das Herz allein reichen nicht dazu aus, um den Körper in Bewegung zu halten. Das ZNS wie auch das Herz «hören» ständig zu und interagieren mit dem Rest des Körpers. Dies zu Gunsten des ganzen sich bewegenden, kämpfenden oder flüchtenden beziehungsweise sich anpassenden Lebewesens.

Dabei sind doch die Hierarchien doch in der Rege klar: der Zahnarzt steht an der Spitze…
Ich verstehe meine Rolle in der Praxis mehr als Spielertrainer denn als General. Ich bin ein Organ des lebendigen Wesens «Zahnarztpraxis» und stehe wie alle anderen Teammitglieder für Erfolg und Misserfolg. Das hängt nicht vom Alter ab, schliesslich zähle ich mich bereits zu den in die Jahre gekommenen Zahnärzte. Um im heutigen Umfeld der raschen Veränderungen zu überleben stellen sich für unsere Praxis immer wieder dieselben Fragen: Welches ist die aktuell beste Strategie? Wo haben wir Spielräume? Wo sehen wir neue Chancen? Wie können wir dabei immer wieder Freude empfinden? Wie passen wir uns an und wohin bewegen wir uns als nächstes? «Freeze» ist keine Option. Stillstand ist Rückschritt.

Sie sagten ebenfalls, dass die Prävention in der Schweiz Erfolge aufweist und dass in Folge immer weniger Rekonstruktionen gefragt sind. Welches sind somit die Behandlungen der Zukunft?
Oh, wäre ich doch ein Orakel! Jetzt schaue ich tief in die Glaskugel… Ja, die Erfolge der Prävention zeigen ihre Spuren und es werden immer weniger rekonstruktive Massnahmen gefragt sein. Davon bin ich überzeugt. Damit verlagert sich die heute manuell dominierte Zahnmedizin hin zu einer diagnostisch-prophylaktisch-dominierten Odontologie. Es ist weiter zu erwarten, dass in naher Zukunft und als Resultat des Schulterschlusses von Biotechnologien und Informationstechnologien erheblich vertieftes Wissen zum ganzen Gastro-Intestinal-System bereitstehen wird. Ich denke da etwa auch an die Mikrobiom-Wissenschaften.

Nahm im Januar am «SGI Spotlight» in Bern als Mitglied der Expertenrunde statt: Dr. Thomas Müller aus Schaffhausen

Eine direkte Relation zwischen Prävention und Ernährung?
Der Mund als Pforte zum Gastro-Instestinal-Trakt wird eine besondere Bedeutung erlangen. Nahrung und Ernährungswissenschaften könnten eine zentrale Rolle in der Prävention erlangen. Ein gesundes orales System ist, so wird heute vermutet, weitgehend und direkt abhängig von einem gesunden Gastro-Intestinal-Trakt. Die Zukunft wird es weisen, wer im oralen Bereich den Ton angeben wird: Biotechnologen und Ernährungsberater, Gastro-Enterologen mit einer oralen Spezialisierung oder wir Zahnärzte, welche zu Oralmedizinern mutieren.

Zum Schluss: Welchen Rat würden Sie jungen Zahnärzten geben, die mit dem Gedanken spielen eine eigene Praxis auf die Beine zu stellen?
Wenn sie ganz sicher sind, dass sie sich auch als Unternehmer sehen, dann sollen sie den Schritt in die Selbständigkeit wagen. Ein eigenes Unternehmen führen kann äusserst befriedigend sein. Es scheint mir ratsam, einen bestehenden Patienten- respektive Kundenstamm zu übernehmen und sich in einer Gemeinschafts- oder Gruppenpraxis zu organisieren. Es braucht dann ein gemeinsames Bild, eine gemeinsame Vision von dem, was man mit der Praxis erreichen will. Diese Vision soll als Leitstruktur für die Entwicklung einer Strategie – eines Umsetzungsplanes – sein. Man muss sich agile Führungsmethoden aneignen, das Team mitgestalten lassen und jederzeit die Nase im Wind halten, um Veränderungen zu antizipieren.

www.mueller-weidmann.ch

https://www.p-to-p.info/

 

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